Eine neue selektive Wahrnehmung beendet das Gemeinschaftsgefühl

Es ist natürlich kein Zufall, dass überall jetzt gebrüllt wird, statt geredet. Der Diskurs ist out. Elegant die Gedanken zu jonglieren mithilfe der Gesetze der Logik, der Bildung und der Empathie gilt als elitäres Gewäsch. Damit müsse jetzt endgültig Schluss sein, mit der Lügenpresse auch, basta! Ende der Diskussion. Es ist ja auch anstrengend.

Doch was ist überhaupt los? Die meisten Kommentatoren wirken überrascht, wie das Beben des Populismus und des Terrors urplötzlich die gesamte Welt erschüttern konnte. Aber es wird noch weiter gehen, viel weiter. Denn die Ursachen sind unter anderem von der Technik getrieben.

Eine wachsende Minderheit ist für Erklärungen nicht mehr erreichbar.

Noch nie war die Welt so komplex verzahnt, noch nie drückte die Tektonik der Macht an so vielen Stellen gleichzeitig aufeinander. Wir hören die Stimmen derer, die Nachsicht mit den Verlierern vieler gesellschaftlicher Schichten in verschiedenen Ländern fordern – man müsse auch deren Stimmen ernst nehmen – und dann was? Oft endet der Gedanke hier, denn was jetzt üblicherweise folgen würde, das ist heute disqualifiziert. Aufklären? Will keiner hören, siehe Lügenpresse. Die Politik möge bitte besser vermitteln, was sie tut? Nun, hier liegt sicher eine Ursache, denn besonders gut waren Politiker selten darin, Macht- und Lobbyinteressen überzeugend als Volkswohl darzustellen. Daraus ergibt sich der aktuelle ernsthafte Problemfall. Denn eine wachsende Minderheit interessiert sich nicht mehr für Erklärungen. Das hat vier Gründe.

  1. Sie kann den Argumenten nicht folgen.
  2. Sie möchte diesen Argumenten nicht folgen.
  3. Sie interessiert sich nur für sich selbst.
  4. Autonomie ist das neue Wir.

Die Ursachen sind Phänomene der digitalen Zeit. Es sind Phänomene, die für sich genommen nicht neu sind. Alle zusammen ergeben ein komplexes Zusammenwirken von Kräften, das neu ist, global wirksam, und das fast zwangsläufig zu Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge führt, die wir nun erleben.

Die digitale Zeit

Die digitale Zeit ist ein kulturhistorisches Phänomen, nicht nur eine Technik, die irgendwie anders ist als diejenigen, die ihr vorausgingen. Sie hat unser aller Verhalten verändert. Unter anderem ist sie eine Sofort-Zeit. Aktienkurse flimmern im Millisekunden-Takt des Computerhandels, nicht mehr durch das manuelle Aufgeben von Orders. Jeder Film ist sofort verfügbar, jeder Freund und jeder Feind sofort auf unterschiedlichen Ebenen erreichbar. Jederzeit gibt es Nachrichten, News und Unterhaltung, selbst das nächste Date kommt ohne viel Aufhebens und möglichst ohne viel ablenkende Nebeninformationen mit einem Wisch zustande.

Homo Digitalis reduziert sein Sensorium

Die Zahl der direkten zwischenmenschlichen Aktionen verringert sich. Menschen verwandeln sich in den Homo Digitalis, er schlurft in gebückter Haltung über sein Smartphone gebeugt, der Digitus, lateinisch für Finger, wird nur noch zum Tippen und Wischen gebraucht. Augen und Finger, viel mehr Sensorik braucht Homo Digitalis nicht. Überhaupt ist es meist auch nur der Daumen, die anderen Finger sind nicht mehr so wichtig. Der hochgereckte Daumen ist eine der Ikonen der digitalen Zeit. Er signalisiert das berühmte „Gefällt mir“.

Homo Digitalis nimmt die Welt nur noch eingeschränkt und vor allem über sein Smartphone wahr. Der aufgesetzte Kopfhörer verstärkt seine Isolation. Mit seinen Arbeitskollegen am Nebentisch tauscht er sich über Kurznachrichten oder per E-Mail aus. Die Buchstabenzahl verringert er idealerweise durch den Einsatz von Emoji. In einer Studie unter 2.000 Kanadiern mit ausgeprägt digitalem Lebensstil stellte Microsoft fest, dass die Aufmerksamkeitsspanne innerhalb weniger Jahre von 12 auf nur noch 8 Sekunden gesunken sei. Das sei eine Sekunde weniger als bei einem Goldfisch.

Entsprechend ungeduldig ist Homo Digitalis. Sein Gehirn lässt nur das durchsickern, was eine Belohnung ist. Das war schon immer so, das lehrt die Hirnforschung. Neu ist, dass er nicht mehr bereit ist, darauf länger zu warten, als seine Aufmerksamkeitsspanne es zulässt.

Die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen sind: „Gibt es WLAN, und wie viel Akku habe ich noch?“

Nicht alles ist in 8 Sekunden erklärbar. Alles was länger braucht, ist schwer zu vermitteln, vielleicht gar nicht. Manche Erkenntnis ist anstrengend oder sogar unangenehm. In der digitalen Zeit ist alles, was lustiger ist, spielerischer oder einfach nur einfacher, immer nur zwei oder drei Sekunden entfernt – je nach Internetverbindung und Ladezeit. Über diese beiden letzten Punkte empören sich Menschen schnell und inständig, nicht so sehr über langatmige Ausführungen darüber, was Unternehmen und Regierungen mit ihren Daten so alles anstellen, die sie darüber versenden.

Die Filterblase

Am 25.10.2016 forderte Angela Merkel („Neuland“) auf den Medientagen in München für ihre Verhältnisse Erstaunliches: Mehr Transparenz bei den Algorithmen von Google und Facebook. Prompt reagierten Regierungskollegen aus den zuständigen Arbeitsgruppen aus Bund und Ländern irritiert und etwas mitleidig, das sei möglicherweise nicht ganz ernst gemeint gewesen. Niemand fordere die Offenlegung des größten Geschäftsgeheimnisses der beiden Internet-Giganten.

Ist unser Medienverhalten eine Gefahr für die Demokratie?

Die hellsichtigen Äußerungen der Kanzlerin zeigen allerdings, dass das mediale Konsumverhalten inzwischen auch auf Regierungsebene als mögliche Gefahr für die Demokratie gesehen wird. Anders ausgedrückt: Die Bundesregierung erkennt die gesellschaftliche Relevanz des technischen Unterbaus von Facebook und Google. Denn die meisten Menschen in der westlichen Welt nutzen vor allem die digitalen Dienste von Google (personalisierte Suche, Youtube, Maps, Android) und Facebook (personalisierte Mediendienste und Nachrichten, WhatsApp, Instagram).

Und genau in diesem Personalisierungswesen entstehen abgegrenzte Eigenwelten. Manche bezeichnen sie als Filterblase, andere als Echokammer. Gemeint ist damit das mediale Selbstgespräch, ein selbstreferenzieller Wald, aus dem tatsächlich nur zurückhallt, was man hineinruft. Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die den meisten Nutzern gleichwohl nicht bekannt ist. Sie glauben, dass ein Suchergebnis von Google für jeden gleich sei – das objektives Ergebnis einer Recherche.

Groß geworden sind Google und Facebook aber dadurch, dass sie das Nutzererlebnis radikal auf jeden einzelnen Kunden optimieren. Wer wieder und wieder sagt: „Hey, genau, was ich gesucht habe, ohne viel suchen zu müssen!“, der bleibt bei Googles Angebot. Aber Google geht noch weiter. Mit Google Now möchte Google Fragen beantworten, bevor wir sie überhaupt gestellt haben. Jedes Mal, wenn wir Googles Dienste erneut nutzen, lernen die Algorithmen wieder etwas mehr über uns. Besonders dankbar ist Google dabei allen Kunden, die es sogar rund um die Uhr mithilfe seines Betriebssystems Android beobachten kann. Jeder Wunsch, jede Gewohnheit und jede Ahnung wird auf diesem Weg zur selbsterfüllenden Prophezeihung, die Google immer effektiver in personalisierte Werbung umsetzen kann – denn das ist Googles zentrales Geschäftsmodell.

Auch Facebook nutzen die wenigsten, um sich mit Freunden auszutauschen, sondern als weltgrößten Zeitungskiosk. Aber dieser Kiosk ist anders als das alte Modell nicht vollgehängt mit Schlagzeilen und Waren aller Art. In diesem Kiosk hängen nur Zeitungen und Zeitschriften, die man kennt. Abonnenten von Fachpublikationen, News und witzigen Videos bekommen hier ebenso im Minutentakt Frischfutter wie diejenigen, die den Klimawandel für eine Lüge halten oder Deutschland für überfremdet und auch jene, die über die Heldentaten des IS auf dem Laufenden bleiben wollen.

Jeder Andersdenkende wird als Lügner entlarvt.

Kein Nutzer bekommt vom regen Treiben im Nachrichtenstrom der anderen auch nur das Geringste mit. Und dennoch sind die Facebook-Nachrichten voller „Fakten, Fakten, Fakten“, wie es Helmut Markwort ausdrückte. Diese „Fakten“ sind nur eben nicht alle belastbar im journalistischen Sinn. Manche sind wahr, manche halbwahr, andere schlicht erfunden. Sie erscheinen in den eigenen Nachrichten, nicht weil sie recherchiert, sondern personalisiert sind.

Angesichts dieser scheinbar klaren Faktenlage wächst die Ungeduld mit jedem, der etwas anderes behauptet. Er wird zum Lügner.

So entsteht die post-faktische Welt. Denn Fakt ist für viele Menschen nicht mehr das, was richtig ist, sondern das, was man zu sehen bekommt. Und das ist identisch mit dem, was einem selbst gefällt.

The Century of Self

Im Jahr 2009 wählte die Rockband „And You Will Know Us by the Trail of Dead“ diesen Titel für eines ihrer Alben. Das Cover stammt vom Frontmann der Band. Es ist ein mit dem Kugelschreiber detailreich gezeichnetes Bild, das eine Szene aus einem Trödelladen zeigt. Ein kleiner Junge betrachtet mit staunenden Augen einen menschlichen Schädel, der vor ihm auf einem Tisch liegt. Neben dem Schädel steht neben allerlei anderem Trödel eine Sanduhr. Vermutlich ist dieses Motiv eine Metapher für das alte griechische Motto „Erkenn Dich selbst“.

In der digitalen Zeit wirkt diese Aufforderung eher altmodisch. Wenn wir in der digitalen Zeit eine neue Ära anbrechen sehen, dann wäre die Century of Self aber noch immer ein sehr treffender Titel – nur mit einer ganz anderen Bedeutung. Nicht „Erkenn Dich selbst“ wäre dann der Schlachtruf, sondern „Stell Dich selbst in den Mittelpunkt“.

Stärker als in jeder Epoche zuvor ist das eigene Selbst, die Personalisierung aller Dienste, aller Dinge ein zentraler Wesenszug der digitalen Zeit. Auf der Personalisierung beruht das Geschäftsmodell von Google, von Facebook, die Film- und Musikempfehlungen von Netflix und Spotify, aber auch das Einkaufserlebnis von Amazon. Der Sneaker, den wir dort kaufen, ist idealerweise ebenfalls personalisiert.

Jeder Kaffee, den wir bei Starbucks kaufen durchläuft einen Konfigurationsprozess, online gekauftes Müsli, genauso wie die Pralinenpackung aus dem Onlineshop von Milka, jeder Neuwagen wird auf diese Weise sogar zum Unikat.

Wir gewöhnen uns daran, dass sich alles nur um uns selbst dreht.

Eine fotografische Gattung ist so populär, dass alle Handyhersteller ihre Technik darauf optimieren – das Selfie. An touristischen Hotspots muss man darauf achten, nicht von einem seiner wichtigsten Accessoires erstochen zu werden, dem Selfie-Stick nämlich, der zu Dutzenden über Schultern baumelt – oder direkt vor dem eigenen Auge. Selbsporträts sind nicht neu, auch Dürer hat sich selbst gezeichnet, auch früher gab es schon Kabel, Timer und auch Funkauslöser für das Selbstporträt mit dem Fotoapparat.

Aber noch nie war es so verbreitet, sich selbst abzulichten. Es ist nicht nur das Selfie, es ist die Century of Self – eine geradezu infantile Haltung, die die Massen bewegt. Sie feiert Selbstdarsteller aller Art, die selbst mit überschaubarem Talent ein Millionenpublikum erreichen. Es ist, als wäre ein weiterer Verwertungszweck im Internet entstanden. Das Internet von Informationen, Unterhaltung und Kommerz, das Internet of Things und das Internet of Self – „Self me, Baby!“

All dieses Treiben hat einen handfesten Grund. Es verleiht nämlich nahezu jedem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Damit ist keine klassische Karriere gemeint. Die kennt kaum noch jemand, außer aus Opas Erzählungen.

Auch deshalb ist der Sog simpler Selbstbezogenheit so groß. Denn Instagram, Blogs und Youtube geben jedem die Perspektive, sich selbst in das Material zu verwandeln, das es durch klassische Beschäftigungsverhältnisse für viele nicht mehr gibt. Eine Studie, veröffentlicht im Journal „Frontiers in Human Neuroscience“ zeigt, wie sich das Sammeln von Likes und Abonnenten auf das subjektive Statusgefühl auswirkt. Demnach wirkt diese Form digitaler Zustimmung direkt auf den Nucleus Accumbens, einer Teilstruktur des Limbischen Systems im Gehirn, das für die Dopamin-Ausschüttung zuständig ist und damit ein Belohnungsgefühl auslöst. Je stärker dieser Effekt bei den Probanden ist, desto deutlicher lässt sich die Intensität der Social-Media-Nutzung daraus ableiten. Ein derart direkter Trigger zum ursprünglichsten Antriebssystem des Menschen ist enorm machtvoll. Dieser digitale Trigger treibt viele Menschen an.

Der typische Erwerbstätige wird heute eine wechselvolle berufliche Biografie erleben. Immer mehr Beschäftigungsverhältnisse sind prekär. Das betrifft nicht nur Arbeiter bei Zeitarbeitsvermittlungen, es betrifft auch immer mehr Akademiker wie Gymnasiallehrer, die Jahr für Jahr um einen neuen befristeten Vertrag bangen. Soziale Sicherheit durch Arbeit existiert für sie nicht mehr. Diese Gewissheit beschäftigt nicht nur den ostdeutschen Wutbürger, sondern auch Millionen Angestellte in den Vereinigten Staaten. Das vermeintliche amerikanische Jobwunder nach der Finanzkrise spielt sich hauptsächlich auf Erntefeldern und rund um Bartresen ab. Auch Geistesarbeiter sind vor fortschreitender Künstlicher Intelligenz in Schreib- und Analyseautomaten nicht mehr sicher.

Die Griechen hatten „Erkenne Dich selbst“. Wir haben „Wähl Dich selbst“.

Deshalb suchen so viele einen Ausstieg, ein Ventil. Viele wählen einen Weg, der besonders einfach zu verstehen ist: Sie wählen sich selbst.

Daraus entsteht die endlose Zahl von Menschen, die sich selbst ablichten mitsamt ihrer eigentümlichen, immer gleich wiederholten Handyblickposen auf Instagram und scheinbar bedeutungsvoll geschnatterten Selbstgesprächen auf Youtube, denen Millionen lauschen und mit den begehrten Likes huldigen. Worum geht’s? Um Beauty, Selbstoptimierung, Gaming und gespielte Witze.

Natürlich ist auch der eine oder andere verrückte Professor unter ihnen, der auf unterhaltsame Art physikalische Phänomene und Theorien erklärt. Die meisten Stars dieser Gattung aber eint, dass sie keinem intellektuellen oder Bildungsmilieu entstammen und im normalen Leben wechselnden Jobs als Friseur oder Fitnesstrainer entgegensähen.

Diese Generation und ihre riesige Anhängerschar reagieren mit einer digitalen Selbstbefreiung aus dem prekären gesellschaftlichen Umfeld. Ihre Botschaft: Die Abkehr von der Gemeinschaft und die radikale Konzentration auf das Selbst als Vermarktungsobjekt.

Autonomie ist das neue Wir

Wer wir sind, das verrät uns unser Newsstream. Wir sind: Selbstoptimierer, Finanzexperten, Wissenschaftler, Katzenfans, DIY-Anhänger, Dekorateure, Hobbyköche, boulevardeske Zuschauer und Gaffer, die nach jeder Art von Unterhaltung gieren, lesbisch, bi, schwul oder transgender, Sektierer, Separatisten, Polit-Aktivisten, Globalisierungsgegner oder -befürworter, Rechte, Linke, Liberale, Rassisten, Homophobe. Gegner und Befürworter.

In der analogen Zeit lasen Menschen Zeitungen und Zeitschriften, die ebenfalls eine Haltung hatten. Die TAZ galt als links, die FAZ als rechts. Aber sie alle ließen auch Gegenstimmen zu, so wie es heute vor allem DIE ZEIT konsequent tut.

Heute gibt es eine Myriade an Lebensanschauungen, und für alle gibt es eine ebenso große Zahl von Stimmen, die genau dieses Modell als die alleinseligmachende Weltsicht anbieten. In der digitalen Zeit bekommen sehr viele Menschen die unverdünnte Version dieser Ideen täglich aufs Handy.

Die Welt ist wütend.

Das macht die Menschen wütend. Josef Joffe von der ZEIT zitiert den Sozialforscher Doug Rivers von YouGov, der sagt: „Wir haben [die Leute] gefragt, wie oft sie etwas hören, das sie aufbringt. Sieben von zehn sagen: ‚täglich‘ oder ‚mehrmals wöchentlich‘.“ Diese Beobachtung erklärt aber weniger das rätselhafte Auftauchen dieser sogenannten Wutbürger als vielmehr die vorangegangene Durchdringung der Welt durch gefilterte, personalisierte digitale Medien.

All diese Faktoren fördern die scheinbar spontanen Selbstzündungen so vieler Partikulargruppierungen aller Art. Weil sie selbstbezogen sind, verzichten sie naturgemäß auf demokratische Prozesse und Entwicklungen. Denn sie sind langwierig und im Sinne dieser Gruppierungen unwirksam. Aus ihrer eigenen Sicht können sie nur so – aus ihrem eigenen Biotop heraus – das offensichtliche Unrecht und die vielen Lügen ihrer Gegner bekämpfen. Und weil diese vielen spontanen Selbstzündungen ein sehr schnelles digitales Lauffeuer entfalten, sieht man sie so bald auf den Straßen und im Fernsehen.

Nur so konnten Nigel Farage und Boris Johnson den Jahrzehnte währenden langen quälenden Prozess und die Auseinandersetzung mit der europäischen Frage durchbrechen. Sie entwarfen ein erfundenes Bild von der Wirklichkeit und scharten auf diese Weise schnell eine millionenstarke Gefolgschaft um sich, die wütend genug war, den Brexit endlich wirklich werden zu lassen. Alle anderen waren zu eingelullt in ihrer eigenen Unterhaltungs-, Hobby- oder Selbstoptimierungswelt, um überhaupt wählen zu gehen. Mit dem Versprechen, es allen Egoisten auf der Insel recht zu machen gelang ihnen der beispielloser Coup, ihren eigenen Egos einen Machtsprung zu verschaffen. Der eine ist heute groteskerweise Außenminister, der andere braucht sich um das angekündigte Ende seiner politischen Karriere keine Sorgen zu machen.

Mithilfe des Projekts „Alamo“ plant Donald Trump seine Zeit nach der US-Präsidentschaftswahl. Auch diese Person hat es geschafft, das Schicksal eines ganzen Landes für seine eigenen Interesse zu instrumentalisieren. Seine Mitbewerberin Clinton scheint (nachträglicher Edit: schien) darin kaum anders zu sein, aber Trumps Team arbeitet geschickter. Es nutzt eine riesige Datenbank mit Kontakten und Kreditkartennummern, um die Nachrichtenlage von Millionen Menschen auch nach seiner Wahl oder Nichtwahl zu manipulieren.

Auch die AfD in Deutschland hat erkannt, wie die digitalen Medien zum Wahlerfolg verhelfen können. Sie plant, Bots einzusetzen, die für den steten Nachrichtenstrom in ihrem Sinne auf Facebook sorgen werden.

Die Regierungsparteien haben den Einsatz solcher Mittel für sich zunächst ausgeschlossen. Das muss aber nichts heißen, sobald einige Enscheider zu dem Schluss kommen, dass der Zweck die Mittel gegen Antidemokraten heilige.

Einige Nachrichtenredaktionen setzen bereits solche Textroboter mit künstlicher Intelligenz ein. Sie werden zum Beispiel in der Sportredaktion eingesetzt. Dort sind sie bereits in der Lage, aus Spielverläufen und der formelhaften Sprache der Spielberichte täuschend menschliche Texte nachzuahmen. Auf diese Weise beschleunigen sie die Berichterstattung über Zweit- und Drittligisten.

Die politische Berichterstattung wird automatisiert.

In naher Zukunft werden wir politische Meldungen auf Zweit- und Drittligistenniveau lesen, die von politischen Akteuren jeder Couleur auf Facebook beworben werden.

Diese Entwicklung hilft am effektivsten den Vertretern ureigener Interessen, weniger den demokratischen Kräften der Welt. Denn die zugrundelegende Methode ist das Diktat – nicht der Diskurs. Einzelne Menschen und Gruppen werden versuchen, in kurzer Zeit große Gruppen von Menschen für ihre ureigenen Motive zu begeistern, um auf diesem Weg ihre Macht zu begründen. Wer sie nicht begründen muss, sondern nur festigen oder erneuern, dem nutzt dieselbe Mechanik. Auf diese Weise erweitern Putin, Erdoğan und der IS den Kreis ihrer Anhänger bis ins Ausland.

Die wachsende soziale Kluft zwischen Besser- und Geringverdienern trifft also nicht die Alleinschuld an der wachsenden Instabilität demokratischer Gesellschaften. Es sind nicht, wie immer wieder vermutet wurde, nur die sozial Abgehängten, die Trump oder die AfD wählen. Es sind oft sogar die Bessergestellten, die sich einen Vorteil versprechen.

Die Ursache ist komplexer. Es ist ein Zusammenwirken digitaler Ignoranz, befördert durch mangelhafte und manipulierte Wahrnehmung, das exklusive Verfolgen von Eigeninteressen auf einer immer persönlicheren Ebene und ein damit befördertes Streben nach Autonomie. Dabei entwickeln immer mehr Partikulargruppen eine eigene Idee davon, welche Identität es zu verteidigen gilt. Sie können darauf vertrauen, dass die Wut ihrer Anhänger weiter steigt, weil es immer mehr Partikularinteressen gibt, die sie gegen ihre eigenen verteidigen müssen. Eine dieser Gruppierungen nennt sich bezeichnenderweise „Identitäre Bewegung“. Auch sie hat – fast selbstverständlich – mit Demokratie wenig am Hut.

Das Gemeinschaftsgefühl ist noch da – es gilt nur für immer kleinere Einheiten.

Die Zentrifugalkräfte aus diesem Zusammenwirken wirken ausgesprochen sezessionistisch und bilden die Gemeinschaftsidee auf immer kleinere Einheiten ab. Das Ergebnis sorgt weltweit dafür, dass eine mehrheitlich konzessionierte Regierungspolitik als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen wird. Dann gewinnt die klar umrissene multipolare Mini-Einheit die Deutungshoheit über die schwammige altmodische Mehrheit.

Die größte denkbare Trophäe in diesem Szenario ist immer: Ein Selfie mit dem Diktator.

2 Kommentare

  1. Sehr erhellender Artikel. Habe beim ‚Selfie mit dem Diktator‘ herzlich gegrinst. Wie wahr 🙂

    Mich erinnert das alles an den Wahnsinn, der sich in einer Gruppe Dope-Abhängiger breitmacht, an ein Suchtverhalten, das krankhaft Aufregerthemen konsumieren muss, um das schwindende Selbstwertgefühl zu kompensieren.

    Oder wie bei uns die Social Media Cats sagen: Auf Facebook ist alles POSTFAKTISCH. Also..ist es gepostet, ist es fakt. Damit schönen Tag und thanks again. Habs gleich geteilt.

    Jan

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