Das Alphabet der Kulturgeschichte der Menschheit zählt von Aristoteles über die Beatles bis zum Ende die großen Namen auf, und unter Z steht jetzt der letzte Eintrag: Zinedine Zidane. Er steht für die Kunst der Bewegung wie Bach für die Kunst der Fuge.

Diese Geschichte beschreibt eine Kurve, die mit einem hohen Abschlag aus dem Marseiller Problemviertel La Castellane beginnt, dann weiter in den Himmel steigt, eine gestalterische Höhe erreicht, wie kaum eine andere Erzählung über Fußballkunst, dann endet sie im Berliner Olympiastadion. Die Geschichte über den herausragenden Fußballspieler seiner Zeit, die Form markiert durch die Enden der Parabel, eine Form wie ein perfekter Pass, der nach großem Flug einfach liegen bleibt wie ein totes Tier.

Dem gewöhnlichen Spieler genügen ein wacher Kopf und zwei Beine — Spielbein, Standbein. Für viele Beobachter waren die merkwürdigen Ergebnisse ganz normaler Bewegungsabläufe Zidanes gar nicht anders zu erklären, als durch die Existenz weiterer Beine: Spielbein, Standbein, Trickbein. Als er das zweite Ende der Parabel erreichte, wuchs Zinedine Zidane ein weiteres, das Stirnbein.

Damit erlegte er seinen Gegenspieler Materazzi. Mit einem wuchtigen Hieb desselben Kalibers, das Frankreich Minuten zuvor beinahe die Führung durch ein Kopfballtor beschert hatte.

Wie ein Boxer, der den entscheidenden Schlag landet, schwebt Zidane über seinem Opfer und scheint auf Zehn zu zählen. Materazzi liegt atemlos staunend am Boden und hält die schmerzende Brust, und tief unter ihm, tief in der Erde begraben liegen der Glanz, die Kunst und die Würde, der ganze Ruhm des Kometen Zidane. Zidane und die Krönung seiner Kunst: Es hätte seine Vollendete werden sollen. Eine Sinfonie des Fußballs mit dem Crescendo auf dem Weltmeistertitel für Frankreich.

Von Spiel zu Spiel begann der Meister mehr und mehr seine Komposition zu dirigieren. Das Finale schwoll bereits zu einer Hymne an, doch wenige Minuten vor dem letzten Takt, nahm Zidane die Partitur und zerriss sie in der Luft.

Aus der magischen Krönung einer seligen Meisterschaft machte er eine Tragödie, eine Beerdigung. Dabei war seine Kunst erst kürzlich wiedergeboren worden. Ein Rücktritt vom ursprünglichen Rücktritt aus der Nationalmannschaft Frankreichs wurde zu einem sehr endgültigen Abgang, der ironischerweise gleich neue Arbeitsangebote Franz Beckenbauers für den FC Bayern München mit sich brachte.

Während dieser Fußballweltmeisterschaft in Deutschland war sie ein letztes Mal zu bewundern, diese außerordentliche Souveränität, mit der Zidane einen großen Pulk brasilianischer Spieler auf sich zustürmen lässt, der nur Sekunden später aussieht, wie eine schlecht ausgebildete Komödiantentruppe.
Wir wurden Zeugen des einzigartigen Zusammenspiels von filigraner Technik, ruhiger Übersicht und präziser Ballbeherrschung wie es sie kein zweites Mal gibt. Seine Bewegungen wirkten niemals hektisch, die Luft um ihn herum war wie in Gel gegossen, es kreiste ein Zauber, der die Zeit zu seinen Gunsten beeinflusste und alle anderen Naturgesetze gleich mit aufhob.

Am Ende erkannten wir immer nur in der Zeitlupe, wie der Ball trotz ganz anderer Bewegungsabläufe zur Seite, nach hinten oder oben rausfliegen konnte, um dabei den Anspielpartner auch noch perfekt zu finden.

Wir einfachen Leute konnten uns so seltsam bewegte Bälle zunächst nur als Abpraller erklären, irgendetwas, wo der gegenerische Spieler wohl doch noch sein Knie oder Schienbein dazwischen gehabt haben muss. Sieh mal, dachten wir dann, auch der Meister verdaddelt hin und wieder den Ball. Aber dann schauderten wir mit wachsendem Schrecken: Es war nie Zufall, es war immer Zauberei.

Werfen wir einen Blick auf die Spielkultur, die Zidane so einzigartig definierte. Was geschah, wenn Zidane den Ball besaß?
Die Zeit ist bereits in eine glibbrige Masse gegossen, und der Gegner kann dagegen anlaufen, wie er will, Zidane wartet geduldig ab und liest das Spiel in aller Ruhe durch. Bis es genau richtig steht; jetzt, genau jetzt verlässt der Ball die magische Umhüllung Zidanes. Und er erreicht seine nächste Spielsituation perfekt — gerade so schnell, dass der Gegner nicht stören kann, aber doch so demütigend langsam, dass der Mannschaftskollege möglichst leichtes Spiel hat.

Das ist das Spiel Zidanes: Er stellt die Spieler auf, gibt ihnen die Gelegenheit dazu und spielt dann den langsamen Pass von beliebiger Länge, der die Laufrichtung aller Spieler gleichzeitig mitbedenkt. Er stößt raffiniert trianguliert genau auf die Rennbahn Richtung Tor, oder er lässt den Ball still und matschig wie Fallobst vor die Füße fallen, je nachdem, was gerade wichtiger ist.

Eine perfekte Körperbalance machte diese kunstvoll besonnene Spiel- und Ballbehandlung erst möglich, die souveräne Beherrschung des Balls bei jedem Tempo, erfüllt von der größten Eleganz.

Sie erinnert an den Stil erfahrener Samurai-Meister, zu deren Tugenden es gehört, in jeder Bewegungsphase den sicheren Stand zu wahren, um fest gegen jeden Schlag zu stehen und jederzeit sicher und überraschend in die nächste Figur wechseln zu können.
Gerade in der Bedrängnis erinnert er an einen Samurai. Denn selbst im Fall ist niemand so würdevoll, kontrolliert und präzise.

Zidane ist nicht der Mann für eine Schwalbe. Das wäre unter seinem Niveau und stünde dem ehrenwerten Ziel entgegen, den Ball unter allen Umständen zu kontrollieren und dem Spiel zur Verfügung zu stellen.

Das Wunder ist so: Das Spiel Zidanes kann nicht gefällt werden, der Ball ist vorher weg, noch im Fall gespielt oder in der Vorahnung dessen. Das Leder ist immer an einem sicheren Ort.

Ein Samurai jedoch bewahrt seine Ehre. Zidanes Ehre liegt in der Erde tief unter dem Rasen Berlins begraben. Allerdings liegt sie selbst dort unten noch unerreichbar hoch für seinen Gegenspieler Materazzi. Wie sich zeigt, hatte er erst gar keine.

Die Kunst des Fußballs wird nicht größer durch Selbstverstümmelung, das haben wir bei van Gogh gelernt. Die Person jedoch, die Legende, sie wird so erst spannend, erdnah und echt. Paul Breitner mag da noch so zetern, Zidane sei „scho immer ein ganz a linker Hund“ gewesen, elf rote Karten hatte es zuvor schon gegeben. Für viele andere tat sich mit ihm ein Fußballuniversum auf, dessen Licht durch Schatten erst Konturen erhielt.

Zidane hat seinen Zeitgenossen eine sehr seltene Freude bereitet, wie vor ihm vielleicht Pelé, dessen Wirken nicht gut dokumentiert ist und bereits 40 Jahre zurück liegt. Ob Beckenbauer, der seine Karriere vor zwanzig Jahren als Raffke in der Unterliga bei Cosmos New York beendete, überhaupt in diese Reihe gehört, mögen andere entscheiden.

Für Zidane erstrahlt kein Stern mehr, und wir müssen jetzt Geduld haben, viel Geduld.

Zidane spielt den Ball nur noch für seine Kinder im heimischen Garten. Manchmal grinst er schelmisch dabei und tut so, als hätten sie ihm das Leder abgeluchst, die Kleinen. Und dann, wenn sie aufhören zu kichern, muss er ihnen und vielen anderen Kindern einiges erklären, immer wieder. Wir wünschen ihm dabei eine Reue, so groß wie sein Spiel.